Schmelze Marsch für die Industrialisierung

Der Moment ist gekommen: Langsam erhebt sich der Walzenkoloss aus der Grube. Dann beginnen zahlreiche umfangreiche Bearbeitungsschritte, die wochenlang dauern können. FOTO: WARREN RICHARDSON

 

VON ROBERT PITEREK, DÜSSELDORF


Walzenguss hat im Siegerland jahrhundertealte Tradition. So auch bei Walzen Irle, das die unentbehrlichen auf Leonardo da Vinci zurückgehenden Industriewerkzeuge nun seit 200 Jahren gießt und die Industrialisierung damit entscheidend befeuert hat. Das Familienunternehmen steht im Corona-Jahr mit seinem diversifizierten Produktspektrum relativ gut da – und baut auf Fortschrittsorientierung und Highend- Fertigung als Erfolgsrezept.

 

Fortschritt und Guss – das war für Walzen Irle bereits im Jahr 1895 untrennbar miteinander verbunden. Das Unternehmen brachte damals den weltweit ersten Motor-Omnibus ins Siegerland. Mit sechs Innen- und zwei Außenplätzen beförderte das neuartige Fahrzeug Fahrgäste von Siegen ins 15 Kilometer entfernte Netphen-Deuz. Statt mit dem Pferd zur Arbeit zu reiten oder die Kutsche zu nehmen, nutzten auch Gießereimitarbeiter das eigentümliche Gefährt, das wie eine Postkutsche aussah, aber von einem frühen Mercedes-Motor angetrieben wurde. Damit war der wie von Geisterhand angetriebene Omnibus mit den riesigen Speichenrädern vor 125 Jahren ein Symbol des innovativen und fortschrittlichen Siegerlands mit seinem industriellen Kern in der Eisen- und Stahlindustrie, dem Bergbau, der Verhüttung sowie der Eisenerzeugung.

Auch Walzen Irle war schon damals Grundpfeiler des Fortschritts und wichtiges Glied der regionalen Industrie. Schließlich waren und sind Walzen ein elementares Werkzeug u. a. zur Produktion von Blechen, Profilen aller Art und Papier, den Grundbestandteilen der Industriegesellschaft im Automobil- und Maschinenbau, im Bahnverkehr sowie in Bildung und Verwaltung. Der Betrieb fertigte Ende des 19. Jahrhunderts bereits seit einem Dreivierteljahrhundert Walzen – zunächst für die Stahl-, später auch für die Papier- und Kunststoffindustrie. Der Name Irle wird im Siegerland aber nicht nur mit Eisen in Verbindung gebracht. Auch die hiesige Bierbrauerkunst geht auf einen Spross der Unternehmerfamilie zurück, die ihren Ursprung in einem „Hof von den Erlen“ etwas weiter nördlich von Netphen hat und ihren Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen kann. Eisenguss fertigten die Irles schon seit Ende des 17. Jahrhunderts. Erste Versuche, Walzen aus Eisen zu gießen, unternahmen die Urahnen Hermann und sein Sohn Johannes vor mittlerweile 200 Jahren.  

Ein willkommener Anlass für den heutigen Stammhalter und geschäftsführenden Gesellschafter Dr.-Ing. Petrico von Schweinichen sowie Geschäftsführer Thomas Fink ein Jubiläum anzusetzen, das ursprünglich in diesem Sommer gefeiert werden sollte. Doch Corona machte den Managern einen Strich durch die Rechnung. „Schweren Herzens haben wir das Jubiläum abgesagt. Die Pandemie macht vor Feierlichkeiten nicht halt“, blickt Fink zurück. Nicht eingestellt wurde die Walzenfertigung, die nur wenig beeinträchtigt weiterlief und statt des Umsatzergebnisses von 55 Mio. Euro im vergangenen Jahr voraussichtlich noch über 50 Mio. Euro in 2020 einspielen wird. Zwar fahren die Gießer in den Werken I und II in Netphen und dem anderthalb Kilometer entfernten Stadtteil Deuz derzeit nur an vier Tagen die Woche Dreischichtbetrieb, weil manche Kunden ihre Aufträge vorerst zurückgestellt haben. Einen finanziellen Verlust durch Kurzarbeit haben sie aber nicht. Die jetzt weniger gearbeiteten Stunden werden über Arbeitszeitkonten ausgeglichen.

www.walzenirle.com