Interview mit Prof. Johannes Gottschling und Prof. Dierk Hartmann

„Die Digitalisierung macht Gießereien flexibler, agiler, sicherer und robuster“

 

Die Datenmenge auf der Erde steigt ständig, aktuell um 27 % pro Jahr. 2025 wird sie 175 Zettabyte erreichen (1 ZB sind 2 Billionen 90-Minuten- Filme). Das produzierende Gewerbe verfügt über die weltweit größte Datenmenge. Auch für die Gießerei-Industrie hält die Nutzung solcher Daten große Chancen bereit.
Auf welchem Stand befinden sich Forschung und Entwicklung hierzulande bei der Digitalisierung? Und was steckt hinter neuen Tools zur Fehlerprognose, Ausschussreduktion, Rückverfolgbarkeit oder Optimierung der Sandregenerierung? Zwei, die es wissen, sind Prof. Dierk Hartmann von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kempten und Prof. Johannes Gottschling von der Universität Duisburg-Essen. Sie haben die Forschung in diesem Bereich seit den 1990er-Jahren entscheidend mitgestaltet. Ein Gespräch mit einem Pioniergespann, das die Gießerei-Industrie einen wichtigen Schritt in Richtung Zukunft vorangebracht haben dürfte.

Herr Prof. Hartmann, Herr Prof. Gottschling, Sie arbeiten seit Langem gemeinsam an Forschungsthemen, um Methoden der Digitalisierung und des maschinellen Lernens für die Gießerei- Industrie nutzbar zu machen. Viele Ihrer Projekte tragen inzwischen Früchte

Hartmann: Ich bin 1993 an den Fachbereich Hütten- und Gießereitechnik der damaligen Gerhard-Mercator-Universität Gesamthochschule Duisburg berufen worden, wo ich Professor Gottschling kennengelernt habe. Wir haben uns seit 1998 mit diesen Themen beschäftigt. Trigger war damals Dr. Weber vom Eisenwerk Brühl, den ich noch aus dem Studium in Aachen in Erinnerung hatte. Er hatte die Idee, die vielen Messinformationen aus der Fertigung für eine Vorhersage der Härteverteilung in Kurbelgehäusen aus Gusseisen mit Lamellengrafit zu machen.

Gottschling: 1993 war ich bereits ein Jahr in Duisburg und hatte dort den Lehrstuhl Mathematik für Ingenieure übernommen. Ich war damals dafür zuständig, Dierk Hartmanns Lehr-Eignung zu prüfen. Wir haben uns besser kennengelernt, angefreundet und haben dann erst einmal viele unserer Ideen zur Digitalisierung im Rahmen von kleineren internen Entwicklungsprojekten und Abschlussarbeiten bearbeitet.

Hartmann: Johannes Gottschlings Ideen passten gut zu meinen eigenen Ideen sowie zu meinen Branchenkontakten. Dann hat sich eins zum anderen gefügt, schon weil Johannes Gottschling sich sehr gut mit der Analyse von Daten auskennt.

Worum geht es bei Ihrer Zusammenarbeit genau?

Hartmann: Zu Beginn lag der Schwerpunkt sicher darauf, ungeklärte Fehlerursachen trotz augenscheinlich unveränderter Prozesseinstellungen aufzuklären, die immer wieder Gesprächsthema in Gießereien sind. Unsere Grundidee war und ist es, große Mengen an zum Teil komplex verknüpften Prozessdaten und Fertigungsinformationen so aufzubereiten und zu analysieren sowie die Analyseergebnisse verfügbar zu machen, dass damit Rückschlüsse und Hinweise auf die Optimierung von Prozesseinstellungen möglich werden. Schon vor 2010 hatte Johannes Gottschling wissensbasierte Systeme entwickelt, die wir dann für die Lösung von Gießereiproblemen eingesetzt haben. Es wurde sehr schnell klar, dass wir nur dann eine sichere Antwort auf die Fehlerursache erhalten würden, wenn wir die entscheidenden Einflussgrößen möglichst vollständig und gussteilindividuell digital verfügbar machen könnten. Erst dann kann mit unterschiedlichsten Analyseverfahren aus den Informationen, die eine Fertigung hergibt, Wissen extrahiert werden, das es ermöglicht, Fehlerursachen und Wirkzusammenhänge zu erschließen und daraus dann wieder Ideen zu entwickeln, mit denen der Prozess stabiler und robuster aufgestellt werden kann. Mittlerweile ist es so, dass wir in viele verschiedenen Richtungen arbeiten. Unsere Arbeiten konzentrieren sich einerseits darauf, komplexe statistische Methoden zur Datenanalyse so einfach wie möglich in einer entsprechenden Analysesoftware verfügbar zu machen und im Rahmen konkreter Fragestellungen anwendungstechnisch an individuelle Fertigungsfragestellungen zu adaptieren.

Gottschling: Es geht auch um die Konservierung von Gießereiwissen. Ein berühmtes Beispiel ist der Gießereimeister, der z.B. in den Sand greift und sagt: der ist okay! Doch woher weiß er das? Hört er etwas, fühlt er etwas? Es war damals aktuell – und ist es heute auch noch –, dass Jungingenieuren die Erfahrung fehlt und sie in die Prozesse der Unternehmen erst einmal hineinwachsen müssen. Um die Erfahrung zu konservieren, haben wir wissensbasierte Systeme eingesetzt. Eines davon wurde CAKE (Computer Aided Knowledge Engineering) genannt und in der Götze AG in Burscheid (heute Tenneco Powertrain Federal-Mogul GmbH) verwendet. Dieses System kann Gießereiwissen aufnehmen, Symptome beschreiben und Fehlerursachen erkennen. Es war eines unserer ersten Programme, das man als Assistenzsystem zur Analyse von Fertigungsfehlern einsetzen konnte.

Hartmann: Das in solchen Systemen konservierte Wissen ist jedoch nicht statisch, vielmehr müssen solche Systeme „lebenslang“ lernfähig sein bzw. lernen. Vieles hat sich ja seit 1995 geändert: Rohstoffe, Legierungen, Fertigungseinrichtungen und Prozesse, Gussteile. Insofern muss man die wahre Welt immer mit aktuellem Bezug betrachten. Grundsätzlich ist die Methodik wichtig, wie man Modelle schafft, die es ermöglichen, komplexe Wirkzusammenhänge zu erkennen und plausibel zu erklären. Wir kennen das alle von Simulationstools; diese modellieren eben mit analytischen Methoden. Wir modellieren auf Grundlage der tatsächlichen Betriebsdaten, die ein Produktionsbetrieb liefert und beachten somit implizit den individuellen „Fingerprint“ einer Gießerei. Solche Modelle nennt man datengetriebene Modelle. Die Idee ist, mit solchen Modellen Ansatzpunkte zu finden, um Prozesse zu beeinflussen.

Gottschling: Letztlich geht es um Optimierung. Auf der Website unseres Start-ups Eidodata heißt es ja auch: die Prozessoptimierer. Wir wollen für alle Belange in Gießereien oder der Prozessindustrie auf Basis von Daten Prozesse optimiert steuern und die Informationen dafür ermitteln, wie man diese Optimierung erreichen kann.

Das Interview mit Prof. Johannes Gottschling und Prof. Dierk Hartmann führte Robert Piterek.