Schwingfestigkeit dickwandiger Eisengussbauteile bei mehrachsigen Beanspruchungen

Von Klaus Störzel, Markus Fass, Jörg Baumgartner und Tobias Melz, Darmstadt

Erschienen in GIESSEREI 7-8/2020

 

In hoch beanspruchten, dimensionierungsrelevanten Bereichen von Bauteilen liegen häufig zeitlich veränderliche mehrachsige Spannungszustände vor. An den Bauteiloberflächen, die im Allgemeinen versagensrelevant sind, herrschen ebene Spannungszustände. Die einzelnen Spannungskomponenten werden in den allermeisten Fällen nichtproportional, können in Sonderfällen aber auch proportional zueinander sein. Werkstoffe reagieren sehr unterschiedlich auf mehrachsige Beanspruchungen. Es gibt sowohl Werkstoffe, die bei nichtproportionalen im Vergleich zu proportionalen zyklischen Beanspruchungen mit Lebensdauerverlängerung, als auch solche, die mit Lebensdauerverminderung oder mit neutralem Verhalten reagieren [1]. Wie sich der im Windkraftanlagenbau breit eingesetzte Werkstoff EN-GJS-400-18-LT mit Bruchdehnungen A5 ≥ 15 % unter mehrachsigen Beanspruchungen sowohl bei konstanten als auch bei variablen Amplituden verhält, wurde im AiF-Forschungsvorhaben "Multi-Wind“ [2] näher untersucht. Des Weiteren wurden im Rahmen dieses Forschungsvorhabens rechnerische Methoden zur Schwingfestigkeitsbewertung weiterentwickelt.

 

Schwingfestigkeitsversuche

Die Schwingfestigkeitsversuche erfolgten an gekerbten Rundproben aus Kugelgrafitguss (EN-GJS-400-18-LT). Es wurden folgende Versuchsreihen durchgeführt (Tabelle 1):

  • 10 Versuchsreihen mit konstanten Amplituden,
  • 8 Versuchsreihen mit gaußverteilten variablen Amplituden,
  • 1 Versuchsreihe mit variablen Amplituden eines „realen“ Zeitverlaufs.

 

 

Die gekerbten Rundproben wurden aus eigens abgegossenen Y-Blöcken entnommen (Bild 1).

 

 

Vergleichend wurden auch zwei Versuchsreihen mit „bauteilentnommenen Proben“ aus einem Maschinenträger aus EN-GJS-400-18-LT durchgeführt. Hier zeigte sich, dass die Ergebnisse bei den untersuchten kombinierten Belastungen konstanter Amplituden in den Streubereichen der Versuche an den „Standardproben“ aus den Y-Blöcken liegen. Die mechanischen Eigenschaften des Materials sind zusammen mit den in der zugehörigen DIN-Norm genannten Werten in Tabelle 2 und die chemischen Zusammensetzungen in Tabelle 3 dargestellt. 

 

 

Für alle Versuche unter kombinierter Last stehen die aufgebrachten Lastamplituden für die Axiallast Fa und die Torsion Mt,a im Verhältnis Mt,a/Fa = 5,25 [Nm/kN]. Dieses Verhältnis führt für eine mittlere Schwingspielzahl von N ≈ 2⋅105 zu gleichen Schädigungsanteilen bei Axialbelastung und Torsion. Für die lokalen Spannungen liegen damit folgende Verhältnisse vor: τax,a = 0,86 bzw. σx,a= 1,16. Die Ergebnisse der Wöhlerversuche sind mit den daraus abgeleiteten Wöhlerlinien für eine Überlebenswahrscheinlichkeit PÜ = 50 % in Bild 2 als Amplitude der maximalen Hauptnormalspannung (MaxP) über der Versagensschwingspielzahl abgebildet. Das Versagenskriterium entspricht einer Risstiefe von etwa a = 2 mm. Bei kombinierten Belastungen ist die maximale Hauptnormalspannung der Axiallast (entspricht der Längsspannung) aufgetragen.

 

Die Ergebnisse zeigen, dass die Lebensdauer bei mehrachsigen nichtproportionalen Beanspruchungen (Phasenverschiebung zwischen Normal- und Schubspannungen φ = 90°) geringfügig höher ist als bei proportionalen Beanspruchungen (φ = 0°) mit gleichen Lastamplituden. Die Neigungen der Wöhlerlinien liegen zwischen k = 7,5 bei wechselnder Axialbelastung und k = 11 bei wechselnder Torsionsbelastung. Aus den Versuchsergebnissen leiten sich bei der Schwingspielzahl N = 5⋅105 die Mittelspannungsempfindlichkeiten für Normalspannungen M = 0,38 und für Schubspannungen Mτ = 0,45 ab. Diese weichen von den in der FKM-Richtlinie angegebenen Werten ab, für die u.a. Mτ < M gilt [3]. Für die überwiegende Zahl der hier durchgeführten Versuchsreihen mit variablen Amplituden wurden Standardlastfolgen mit Gaußscher Häufigkeitsverteilung verwendet [4, 5].

Die Versuchsreihen mit sog. „realen“ Belastungszeitverläufen basieren auf Simulationsdaten einer Windkraftanlage, die realen Zeitverläufen erfahrungsgemäß sehr nahekommen. Liegen Beanspruchungszeitverläufe mit variablen Amplituden vor, werden diese zur rechnerischen Lebensdauerbewertung in einzelne Schwingspiele zerlegt, für die über eine modifizierte Wöhlerlinie, mit Neigung k im Zeitfestigkeitsbereich und Neigung k‘ nach dem Abknickpunkt, Teilschädigungen ermittelt werden. Diese Teilschädigungen werden aufsummiert. Beim Erreichen der tatsächlichen Schadenssumme Dtat wird ein Bauteilversagen erwartet. Auf Basis der hier durchgeführten einachsigen Versuche mit Gauß-Lastfolgen (Kollektivumfang LS = 5⋅104) ergibt sich, bei Anwendung der linearen Schadensakkumulation nach Palmgren-Miner modifiziert nach Haibach, mit k‘ = 2k-1 [4], als tatsächliche Schadenssumme Dtat = 0,1.

 

Rechnerische Schwingfestigkeitsbewertung

Für das Ermüdungsverhalten von Bauteilen sind lokale Beanspruchungsgrößen verantwortlich. Diese werden in der Praxis für das zu bewertende Bauteil mittels der Finite-Elemente-Methode berechnet. Für die rechnerische Lebensdauerabschätzung wird derzeit für Gusswerkstoffe als Stand der Technik die schnittebenen-bezogene Normalspannungshypothese (CPNH) verwendet. Hier werden in den Schnittebenen senkrecht zur Oberfläche die Normalspannungszeitverläufe berechnet und im Hinblick auf die Lebensdauer bewertet. Die Schnittebene mit der größten Schädigung ist maßgebend. Die Methoden-Wöhlerlinie, also die Wöhlerlinie, gegen die die Normalspannungszeitverläufe bewertet werden, ergibt sich aus der hier experimentell ermittelten Proben-Axiallast-Wöhlerlinie zu:

σa,k = 159,0 MPa (Amplitude am Abknickpunkt), für PÜ = 50 %, bei Nk = 5⋅106 (Schwingspielzahl am Abknickpunkt) und Neigung k = 7,5.

Für die Lebensdauerbewertung wird die Schadensakkumulation nach Palmgren-Miner modifiziert nach Haibach [4] empfohlen. Um kompatibel zur Vorgehensweise bei Stahl zu sein, wird für die Schadensakkumulation die Neigung nach dem Abknickpunkt mit k‘ = 2k-1 verwendet.

Werden die experimentell betrachteten Lastfälle mit Gaußlastfolgen mithilfe der schnittebenenbezogenen Normalspannungshypothese auf Basis der tatsächlichen Schadenssumme Dtat = 0,1 rechnerisch bewertet, ergeben sich die in Bild 3 gezeigten Ergebnisse. Der experimentelle Befund, dass die Lebensdauer bei mehrachsigen Beanspruchungen mit Phasenverschiebung φ = 90° geringfügig höher ist als bei proportionalen Beanspruchungen mit φ = 0°, wird mit dieser Hypothese prinzipiell richtig abgebildet, jedoch wesentlich überschätzt. Die rechnerische Lebensdauer bei φ = 90° wird rechnerisch überschätzt, d. h. die Berechnungsergebnisse sind nichtkonservativ. Die Lebensdauer bei proportionaler Beanspruchung mit φ = 0° wird in recht guter Übereinstimmung zu den Versuchsergebnissen berechnet. Für rein wechselnde Torsionsbeanspruchung (R = -1) werden etwas höhere Lebensdauern als im Versuch berechnet und somit auch eine nichtkonservative Bewertung erzielt. 

Neben der CPNH stehen noch andere Kriterien zur Verfügung, mit denen mehrachsige Beanspruchungen bewertet werden können. So wird nach [6] für eine zeitlich veränderliche zyklische Beanspruchung folgende versagenskritische Größe als Findley-Kriterium (FIN2) eingeführt:

σfin= max Ebenen i a,i+kfin∙σn,max,i)


wobei τa,i die Schubspannungsamplitude und σn,max,i die maximale Normalspannung σn in einer Schnittebene i senkrecht zur Bauteiloberfläche darstellen. Das Maximum wird über alle Ebenen genommen.

Beim Findley-Kriterium wird nur die Schubspannungsamplitude, nicht aber der Schubspannungsmittelwert bewertet. Zusätzlich wird das Ermüdungsverhalten durch den während des Schubspannungs-Schwingspiels in der betrachteten Ebene auftretenden Höchstwert der Normalspannung beeinflusst. Über die Axial- und Torsionswöhlerlinien bei R = -1 an den hier untersuchten schwach gekerbten Rundproben wurden der Methodenparameter kfin = 1,46 und die Parameter der Methoden-Wöhlerlinie für PÜ = 50 % ermittelt mit:

  • σa,k = 268,1 MPa (Amplitude am Abknickpunkt) bei Nk = 5⋅106,
  • Neigung k = 9,3 (als mittlere Neigung der Axial- und Torsions-Wöhlerlinie k = (kax + ktors)/2)

Liegen Beanspruchungszeitverläufe mit variablen Amplituden vor, sind zur Lebensdaueranalyse aus diesen Zeitverläufen schädigungsrelevante Schwingspiele zu identifizieren. Zur Anwendung des Findley-Kriteriums ist ein mehraxialer Rainflow-Algorithmus erforderlich, da für jedes Schubspannungs-Schwingspiel ein zugehöriger Maximalwert der Normalspannung ermittelt werden muss. Langlais [7] beschreibt einen geeigneten mehraxialen Rainflow-Algorithmus. Wie bei der Normalspannungshypothese wird auch beim Findley-Kriterium bei der Schadensakkumulation die Neigung nach dem Abknickpunkt mit k‘ = 2k-1 verwendet.

Mit der Findley-Hypothese können die Versuchsergebnisse für das Lastverhältnis R = -1 für alle betrachteten Lastfälle, außer reiner Torsion, gut abgebildet werden. Rein wechselnde Torsionsbeanspruchung wird nichtkonservativ bewertet. Der Einfluss der Phasenverschiebung bei kombinierten Lasten wird zutreffend dargestellt. Die Lebensdauer bei schwellenden Belastungen (R = 0) wird deutlich konservativ abgeschätzt (Bild 4).

 

 

Mit einer Modifikation, bei der der Mittelspannungseinfluss nicht direkt über das Findley-Kriterium, sondern unabhängig davon in jeder Schnittebene über ein zutreffendes Haigh-Diagramm berücksichtigt wird, können die Lastfälle mit schwellenden Belastungen deutlich besser bewertet werden [2]. Da dieses Vorgehen jedoch nicht uneingeschränkt auf allgemeine Betriebslastverläufe angewendet werden kann, wird es hier nicht näher betrachtet. Bild 5 zeigt die Gegenüberstellung der in der Praxis derzeit überwiegend angewendeten schnittebenenbezogenen Normalspannungshypothese sowie des Findley-Kriteriums mit den experimentellen Schwingfestigkeitsergebnissen für den „realen“ Zeitverlauf.

 

 

Auf Basis der experimentell ermittelten tatsächlichen Schadenssumme Dtat = 0,1 berechnen sich mit der CPNHMethode im Vergleich zu den Versuchsergebnissen zu hohe ertragbare Schwingspielzahlen. Die rechnerisch abgeschätzten Schwingspielzahlen mit dem Findley-Kriterium bei Verwendung des mehraxialen Rainflow-Algorithmus nach Langlais liegen unterhalb der im Versuch ermittelten Werte. Das Findley-Kriterium liefert also konservative Ergebnisse.

 

Schlussfolgerungen

Die hier durchgeführten Versuchsreihen ergaben, dass die derzeit bei der rechnerischen Schwingfestigkeitsbewertung von Gussbauteilen überwiegend angewendete schnittebenenbezogene Normalspannungshypothese, insbesondere bei nichtproportionalen Beanspruchungen, zu nichtkonservativen Lebensdauerabschätzungen führen kann. Es zeigte sich, dass die Schwingfestigkeit von Bauteilen aus duktilem Eisenguss EN-GJS-400-18-LT mithilfe des Findley-Kriteriums zuverlässig konservativ abgeschätzt werden kann. Diese Methode ist nicht wesentlich aufwendiger als die schnittebenenbezogene Normalspannungshypothese. Es ist jedoch ein weiterer Methodenparameter kfin erforderlich, der durch Versuche zu bestimmen oder geeignet abzuschätzen ist. Im Zuge des Vorhabens wurde ein Bemessungskonzept auf Grundlage des Findley-Kriteriums entwickelt, welches zurzeit in der Praxis erprobt und bis Mitte 2021 noch weiter verfeinert wird. Zur Berücksichtigung der im Forschungsvorhaben „MultiWind“ erzielten Ergebnisse in Zertifizierungsrichtlinien wie der DNVGLST-0361 [8] sind weitere Untersuchungen, insbesondere zum Sicherheitskonzept, erforderlich.

Dipl.-Ing. Klaus Störzel, Dr.-Ing. Jörg Baumgartner, Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF, Darmstadt und Markus Faß, M.Sc., Prof. Dr.-Ing. Tobias Melz, Systemzuverlässigkeit und Maschinenakustik SAM, TU Darmstadt.

 

Literatur:
[1] Sonsino, C. M.: Influence of Material’s Ductility and Local Deformation Mode on Multiaxial Fatigue Response, International Journal of Fatigue 33 (2011), S. 930–947.
[2] Melz, T.; Störzel, K.; Faß, M.: Sichere Nutzung des Schwingfestigkeitspotentials von dickwandigen Eisengussbauteilen aus EN-GJS-400 für die Windenergietechnik durch verbesserte Methoden zur rechnerischen Bewertung der Beanspruchungsmehrachsigkeit (MultiWind), AiF 18378 N, 2020.
3] FKM Richtlinie - Rechnerischer Festigkeitsnachweis für Maschinenbauteile aus Stahl, Eisenguss- und Aluminiumwerkstoffen, VDMA 6. Auflage 2012.
[4] Haibach, E.: Betriebsfestigkeit – Verfahren und Daten zur Bauteilberechnung. Springer-Verlag, Berlin 2006 (3., korrigierte und ergänzte Auflage).
[5] Fortschrittsberichte, VDI-Z Reihe 5, Nr. 30 (1970).
[6] Journal of Engineering for Industry (ASME) 81 (1959), pp. 301-306.
[7] International Journal of Fatigue 25 (2003), pp. 641-647.
[8] Machinery for wind turbines Standard, DNVGL-ST-0361 – Edition September 2016. 

 

Die hier dargestellten Ergebnisse wurden im IGF-Vorhaben Nr. 18378 N „Sichere Nutzung des Schwingfestigkeitspotentials von dickwandigen Eisengussbauteilen aus EN-GJS-400 für die Windenergietechnik durch verbesserte Methoden zur rechnerischen Bewertung der Beanspruchungsmehrachsigkeit (MultiWind)“ erarbeitet. Dieses Vorhaben wurde von der Forschungsvereinigung Gießereitechnik e.V. - FVG über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert. Die Autoren bedanken sich dafür und ebenfalls bei den Teilnehmern des Projektbegleitenden Ausschusses für die konstruktive Zusammenarbeit.

 

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